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Ein violetter Funken Hoffnung

Die Schuhe der Frau waren Violett. Sie sahen aus als ob sie aus sehr weichem Leder gemacht worden wären. Der hohe Absatz der Schuhe betonte ihre Beine. Auch wenn sie sehr auffällige Schuhe trug war die Frau eher von unscheinbarer Gestalt. Ihre Kleidung war genau so schlicht wie ihr Gesicht. Ihre Haare waren streng nach hinten gebunden und leicht fettig. Sie ging mit zielstrebigen Blick die Straße entlang.

Ihre Schritte waren auf ihr Ziel konzentriert. Eine mögliche Ablenkung ihres Wegs war ausgeschlossen. Denn so wie die Welt keine Notiz von dieser Frau nahm, so nahm diese Frau auch keine Kenntnis von ihrer Umgebung. Schnellen Schrittes ging sie die Straßen entlang, bog in Straßen ein, überquerte diese, wartete vor roten Ampeln, ging durch Unterführungen und wurde zu keinem Zeitpunkt langsamer in ihrem Schritt.

Nie hätte man den Eindruck gewinnen können, dass sie Schmerzen auf Grund ihrer hohen Schuhe haben könne. Doch das Gegenteil war der Fall. Die Schuhe waren absichtlich eine Größe kleiner gewählt und auf Grund der bereits bewältigten Strecke und die enge der violetten Schuhe hatten ihre Füße nicht nur Blasen sondern bluteten bereits stark. Doch das war so von der Frau gewünscht. Dieser körperliche unerträgliche Schmerz bei jedem einzelnem Schritt war in diesem Moment stärker als jeder seelische Schmerz. Doch die Frau verzog keine Miene, ließ sich in keinem Augenblick anmerken welche Qualen sie litt. Nach einiger Zeit schien die Frau ihr Ziel erreicht zu haben und öffnete die Tür.

Eigentlich wird dieser Tag, ein Tag wie jeder andere werden. Es ist Mittwoch, aber nichts besonderes. Das Wetter ist weder gut noch schlecht, daher nicht weiter erwähnenswert. Der Verkehr wäre schrecklich wenn er nicht wie jeden anderen Tag auch mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren würde. Es ist Ende des Monats und es wird heute nicht viel Kundschaft geben. Eine Gegebenheit die auch schön sein kann, aber ein wenig Ablenkung von der Bürotätigkeit wäre ihm heute schon wünschenswert. Sein Arbeitsweg war verhältnismäßig kurz, er schloss sein Fahrrad an dem dafür vorgesehen Ort ab und ging durch die Hintertür in das Gebäude. Wie an jedem anderen Tag, war er nicht der Erste, was den Vorteil hatte das der Kaffee bereits durchgelaufen war. Er schenkte sich in der Kaffeeküche eine Tasse ein, begrüßte die bereits anwesende Kollegin und warf einen Blick auf den Dienstplan. Anders als die anderen Tage war dieser Mittwoch mit einem Roten Strich markiert. Er sah auf den Kalender und ihm wurde sofort klar, das dieser Tag nicht so werden würde wie die anderen. Dieser Tag, einmal im Jahr war außergewöhnlich. Nicht spektakulär, aber besonders. Ein weiterer Blick auf den Dienstplan verriet ihm, dass er heute im Kundendienst und vor allem an der Kasse sitzen würde. Seine positive Stimmung war zwar nicht vollkommen verschwunden doch merklich gedämpft. Dieser Tag, der sich nun zum vierten mal jährte, war für keinem seiner Kollegen einfach. Er erledigte einige Aufgaben in seinem Büro, welche ihn von dem heutigen Arbeitstag ablenken sollten. Normalerweise arbeitete er sehr gerne, doch heute war alles anders. Um viertel vor neun ging er nach vorne, bereitete die Kasse vor und öffnete die Haupteingangstür des Museums.

Die Tür öffnete sich und die Frau in den hohen, zu kleinen violetten Schuhen betrat das Museum. Der Mann hatte sich noch gar nicht richtig an den Schalter gesetzt, da blickte er bereits in ihr ausdrucksloses Gesicht. Wortlos öffnete die Frau ihre Geldbörse, legte das Eintrittsgeld auf den Tresen, der Mann gab ihr die für sie bestimmte Eintrittskarte und sie betrat das Museum.

Sie wechselten kein Wort miteinander. Normal war dieses Verhalten hier nicht, aber diese Frau war auch keine normale Museumsbesucherin. Jeder wusste, dass sie an diesem bestimmten Tag in diesem Museum ist. Sie kommt morgens bei der Öffnung und geht erst bei der Schließung. Niemand hat je gesehen, wie sie sich ein anderes Ausstellungsstück als den Maulaff ansah. Sie wird den ganzen Tag vor dieser Holzfigur sitzen, ohne zu essen, zu trinken oder auch nur einen Blick von der Figur abzuwenden. Diese Frau war der Grund dafür, dass dieser Tag auf dem Dienstplan rot markiert wurde.

Den Weg kannte die Frau genauso gut wie den Weg den sie zu dem Museum genommen hatte. Jedes Jahr ging sie die selbe Strecke, den Rest des Jahres versuchte sie stets die heute gegangenen Straßen zu meiden. Doch heute, heute ist der besondere Tag. Dieser Tag gehörte nur dieser Figur und die Liebe die sie mit ihr verband. Es war eine tiefe Empfindung, welche sie sonst zwar nicht aus ihrem Leben strich, sie versuchte lediglich den Schein zu waren. Sie tat das, was die Gesellschaft von ihr erwartete. Sie stand morgens auf und aß etwas. Eine Zeitlang war das aufstehen nicht möglich und sie verbrachte Monate in ihrem Bett. So langsam aß sie auch wieder, allerdings nur um irgendwie Kraft zu bekommen nicht weil sie Appetit hatte. Sie wusch sich, nicht so regelmäßig wie sie eigentlich müsste, doch sie hatte nicht die Kraft dazu. Diese war vor vier Jahren gegangen. Sie ging regelmäßig zur Arbeit, aber nicht weil es ihr Freude bereitete. Viel mehr war dieses die einzige Möglichkeit das die Tage vorüber gingen. Sie machte ihren Dienst, zwar nach Vorschrift und mit keiner Art von Leidenschaft, doch man lies sie ihr Leben so leben. Sie akzeptierte diese Pflichten, die von ihr erwartet wurden. Nur nicht an diesem Tag.

Den halben Tag saß er an der Kasse. Gelegentlich kamen Besucher vorbei, doch die meiste Zeit arbeitete er an irgendwelchem Papierkram. Bürokratie. Gegen Mittag kam eine der Kolleginnen und löste ihn für eine Pause ab. Er ging in den Pausenraum, aß ein belegtes Brot und hatte währenddessen einen Einfall. Er ging ins Museum, ging durch die Ausstellungsräume bis er sein Ziel erreichte. Er sah sie dort sitzen, die schlichte Frau in ihren violetten Schuhen. Ihr Blick war starr auf die Holzfigur gerichtet, sie schien in einer anderen Welt zu sein. Die Frau blinzelte nicht mal. Der Mann setzte sich neben sie, betrachte ebenfalls die Figur und fragte sich, was genau der Grund war, dass diese Frau jedes Jahr aufs Neue hierher kam. Er versuchte die Frau anzusprechen um vielleicht eine Ahnung einer Antwort auf seine Frage zu erhalten. Doch sie beachtete ihn nicht. Zum Ende seiner Pause verließ er den Ausstellungsraum, warf einen letzten Blick zurück auf die Frau und ging wieder an seinen Arbeitsplatz.

Nachdem die Durchsage mit der Information kam, dass das Museum in wenigen Minuten schließen würde, stand die Frau auf und verließ das Museum. Sie nahm genau den gleichen Weg den sie auch für den Hinweg gewählt hatte. Die Wunden an ihren Füßen, die während der Zeit des Sitzens leicht verheilt waren, sprangen sofort wieder auf und begannen augenblicklich an zu bluten. Doch sie ließ sich davon nicht beirren, vielmehr ging sie strammen Schrittes zurück.

Zuhause angekommen zog sie die Schuhe nicht aus, denn sie würde für ihre Schande den ganzen Tag Buße tun. Sie hatte auf so viele Arten versucht ihre Schuld zu erleichtern, doch nichts hatte ihr die Last von den Schultern nehmen können. Doch die Figur zu sehen, die er so geliebt hatte, über die er lachen konnte und für die er so viel Freude empfand, war hilfreich. Sie erinnerte sich und ließ den Schmerz allgegenwärtig sein. Nichts auf dieser Welt konnte ihr ihr Versagen verzeihen und sie konnte es am wenigsten. Diesen Tag im Jahr bestrafte sie sich dafür am meisten, nicht aus Hass auf sich, sondern aus Liebe zu ihm. Die Liebe, die sie sich fast täglich unter die Haut brannte. Die Liebe, die sie überschwemmte und trotzdem innerlich zerfraß. Eine so tiefe und bedingungslose Liebe, dass sie sich selbst nie vergeben können wird. Und doch diese Figur, diese Holzfigur in dem Museum, dieser Maulaff gab ihr etwas, was sonst niemand vermag. Hoffnung. Denn an diesem Tag sah und hörte sie das fröhliche, unbeschwerte Lachen. Das unverkennbare Lachen ihres Sohnes.

Ein violetter Funken Hoffnung von K. Herrmann

Literaturwettbewerb Aschaffenburg 13.06.16


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